Trotz und Utopie –
die FDJ 20 Jahre nach dem Mauerfall

Ich bin in einem kleinen norddeutschen Dorf mit malerischen Höfen, Massentierhaltung und Bullerbü-Romantik aufgewachsen. 500 Einwohner:innen, Obstanbau, Infrastuktur bestehend aus der freiwilligen Feuerwehr, der Kneipe »Im Deutschen Haus« und unfassbar viel Alkohol. Der Anschluss an den ÖPNV bestand aus einem wochentags einmal verkehrenden Schulbus ins Nachbardorf (dort war die Grundschule). Ein Besuch des Gymnasiums in der Stadt war für die Dorfkinder infrastrukturell nicht vorgesehen.

Da es für mich dort nix weiter zu tun gab, habe ich begonnen zu fotografieren, ein bisschen Ende der Achtziger Jahre und dann noch mal Ende der Neunziger / Anfang der Nuller Jahre.



I grew up in a small northern German village with picturesque farms, factory farming and Bullerbü romance. 500 inhabitants, fruit growing, an infrastructure consisting of a voluntary fire brigade, the pub "Im Deutschen Haus" and plenty of alcohol. The connection to public transport consisted entirely of a school bus to the neighbouring village (where the primary school was) that ran once a day mondays - fridays. There was no infrastructure for the village children to reach the higher schools located the next bigger town.

Since there was nothing else for me to do there, I started taking photographs, a bit at the end of the eighties and then again at the end of the nineties / beginning of the noughties.

Der Eiserne Vorhang ist verschwunden.
Die DDR ist Geschichte.
Die FDJ existiert noch.  

Diese Vorstellung war für mich komplett absurd, im Sommer 2009, als ich das mitbekommen habe. Ich bin im Westen aufgewachsen und alt genug, um die Existenz der DDR noch bewusst miterlebt zu haben. In meiner Kindheit war meine Mutter in die Republikflucht eines Freundes aus Ost-Berlin involviert, direkt nach seiner Flucht hat er für eine Weile bei uns gewohnt.  

Vom Herbst 2009 bis zum Herbst 2010 habe ich die verbliebenen und neu hinzugekommenen Mitglieder der FDJ begleitet.  



The Iron Curtain has disappeared.
The GDR is history.
The FDJ still exists.  

This idea was completely absurd to me in the summer of 2009 when I realised it. I grew up in the West and was old enough to have consciously experienced the existence of the GDR. When I was a child, my mother was involved in a friend's escape from East Berlin, and immediately after his escape he lived with us for a while.  

From autumn 2009 to autumn 2010, I accompanied the remaining and new members of the FDJ.

Die FDJ (Freie Deutsche Jugend) existierte in den ersten Nachkriegsjahren in beiden deutschen Staaten. Im Westen wurde sie 1951 verboten; in der DDR entwickelte sie sich zu einer mächtigen und omnipräsenten Massenorganisation. Sie war der einzige zugelassene Jugendverband der DDR und eng mit dem Schulsystem verwoben. Eine Mitgliedschaft war de facto obligatorisch für den beruflichen und sozialen Aufstieg; kurz vor der Wende trugen knapp 90% der Jugendlichen das blaue Hemd der FDJ. Ihre Publikation »Junge Welt« war die auflagenstärkste Tageszeitung in der DDR. Wer die Mitgliedschaft verweigerte, hatte einen schlechten Stand.

Bild 1 & 2: »LL-Demo« (Luxemburg-Liebknecht-Demonstration), 2010, Berlin
Bild 3: Erstellung des FDJ-Transparents für »LL-Demo«, 2009, Berlin
Bild 4: Plakate kleben anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls, 2009, Berlin
Bild 5: 19. Jahrestag der Wiedervereinigung, 2009, Berlin



The FDJ (Free German Youth) existed in both German states in the first post-war years. In the West it was banned in 1951; in the GDR it developed into a powerful and omnipresent mass organisation. It was the only authorised youth organisation in the GDR and was closely interwoven with the school system. Membership was de facto compulsory for professional and social advancement; shortly before the fall of the Wall, almost 90% of young people wore the blue shirt of the FDJ. Its publication "Junge Welt" was the highest-circulation daily newspaper in the GDR. Those who refused membership had a bad standing.

Image 1 & 2: "LL-Demo" (Luxemburg-Liebknecht-Demonstration), 2010, Berlin
Image 3: Cration of the FDJ banner for "LL-Demo", 2009, Berlin
Image 4: Sticking posters on behalf of the 20th anniversary of the fall of the Berlin Wall, 2009, Berlin
Image 5: 19th Anniversary of Reunification, 2009, Berlin

In den Wendejahren verließen so gut wie alle Mitglieder die FDJ und ihr Vermögen wurde von der Treuhand eingezogen. Nachdem die SED 1990 zur PDS geworden war, erkannte sie die FDJ nicht mehr als ihren Jugendverband an.

Bild 6: 19. Jahrestag der Wiedervereinigung, 2009, Berlin, Unter den Linden
Bild 7: Büchertisch der FDJ auf dem VVN-BDA-Kongress (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschist:innen), 2009, Berlin


In the early 90ies, almost all members left the FDJ and its assets were confiscated by the Treuhand. After the SED became the PDS in 1990, it no longer recognised the FDJ as its youth association.

Image 6: 19th anniversary of reunification, 2009, Berlin, Unter den Linden
Image 7: FDJ book table at the VVN-BDA Congress (Association of the Persecuted of the Nazi Regime, Association of Anti-Fascists), 2009, Berlin

Trotzdem ist die FDJ heute noch aktiv: es gibt mehr oder weniger organisierte Gruppen im Osten Deutschlands und auch in westdeutschen Städten wie Bremen, Frankfurt am Main und München. Über die Anzahl ihrer Mitglieder macht sie keine Angaben, Schätzungen schwanken zwischen deutschlandweit ein paar Dutzend und 200. Nach meiner persönlichen Einschätzung sind es um die 60, Tendenz fallend. Viele von ihnen sind um die 20 Jahre alt, haben die DDR also entweder gar nicht oder nicht bewusst erlebt – und aus dem Westen. Die FDJ lehnt die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten als »widerrechtliche Annexion des Staatsgebietes der DDR seitens der BRD« ab. Ihr gilt die DDR als das bessere Deutschland, ihr Wunsch ist ein sozialistischer Staat nach ihrem Vorbild.

Bilder 8–15: Mitglieder der FDJ auf dem Antifaschistischen Aktionscamp bei Weimar. Sie besuchen die Gedenkstätte des KZs Buchenwald, führen auf dem Aktionscamp das Theaterstück »Neues aus Mahagonny« von Bertold Brecht auf und singen Arbeiterlieder am Lagerfeuer.



Nevertheless, the FDJ is still active today: there are more or less organised groups in East Germany and also in West German cities like Bremen, Frankfurt am Main and Munich. The FDJ does not give any information about the number of its members, estimates vary between a few dozen and 200 throughout Germany. According to my estimation, there are around 60, and the trend is downwards. Many of them are around 20 years old, so they either didn't experience the GDR at all or not consciously - and from the West. The FDJ rejects the reunification of the two German states as an "illegal annexation of the territory of the GDR by the FRG". They see the GDR as the better Germany and want a socialist state based on its model.

Images 8–15: Members of the FDJ at the Anti-Fascist Action Camp near Weimar. They visit the Buchenwald concentration camp memorial, perform Bertold Brecht's play "News from Mahagonny" at the action camp and sing workers' songs around the campfire.

Bilder 16–21: Mitglieder der FDJ protestieren gegen den Abriss der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Ziegenhals. Bild 16: Vor dem brandenburgischen Landtag in Potsdam im Mai 2010, Bilder 17–21: an der Gedenkstätte in Königs-Wusterhausen im April 2010


Images 16–21: Members of the FDJ protesting against the demolition of the Ernst Thälmann memorial in Ziegenhals. Image 16: In front of the Brandenburg state parliament in Potsdam in May 2010, images 17–21: at the memorial in Königs-Wusterhausen in April 2010.

Jetzt, 2023, ist die FDJ nach wie vor aktiv. Der Anteil ihrer Mitglieder, die in der DDR gelebt haben und / oder sie angesichts ihres Alters noch bewusst miterlebt bzw mitbekommen zu haben, ist noch geringer als vor 13 Jahren.

Bilder 22–24: Mitglieder der FDJ 2009 & 2010, Bremen & Berlin



The FDJ is still active now, in 2023. The proportion of its members who lived in the GDR and / or consciously experienced or witnessed it in view of their age is even lower than 13 years ago

Images 22-24: Members of the FDJ 2009 & 2010, Bremen & Berlin

Bilder 26–31: Demonstrationszug der FDJ auf dem 20. Jahrestag der Wiedervereinigung in Bremen 2010


Images 26–31: FDJ demonstration on the 20th anniversary of reunification in Bremen 2010

Bilder 32–33: Die FDJ und ihr Publikum am Rande des 19. Jahrestag der Wiedervereinigung in Berlin, 2009


Images 32–33: The FDJ and its audience on the sidelines of the 19th anniversary of reunification in Berlin, 2009

Bilder 34–36: Büchertisch der FDJ auf dem Sozialistenfriedhof in Berlin-Lichterfelde. Die Mitglieder legen rote Nelken an Walter Ulbrichts Grab nieder. Berlin, 2010


Images 34–36: FDJ book table at the Socialist Cemetery in Berlin-Lichterfelde. Members lay red carnations at Walter Ulbricht's grave. Berlin, 2010

Der Eiserne Vorhang ist verschwunden.
Die DDR ist Geschichte.
Die FDJ existiert noch.  

Diese Vorstellung war für mich komplett absurd, im Sommer 2009, als ich das mitbekommen habe. Ich bin im Westen aufgewachsen und alt genug, um die Existenz der DDR noch bewusst miterlebt zu haben. In meiner Kindheit war meine Mutter in die Republikflucht eines Freundes aus Ost-Berlin involviert, direkt nach seiner Flucht hat er für eine Weile bei uns gewohnt.  

Vom Herbst 2009 bis zum Herbst 2010 habe ich die verbliebenen und neu hinzugekommenen Mitglieder der FDJ begleitet.  



The Iron Curtain has disappeared.
The GDR is history.
The FDJ still exists.  

This idea was completely absurd to me in the summer of 2009 when I realised it. I grew up in the West and was old enough to have consciously experienced the existence of the GDR. When I was a child, my mother was involved in a friend's escape from East Berlin, and immediately after his escape he lived with us for a while.  

From autumn 2009 to autumn 2010, I accompanied the remaining and new members of the FDJ.

Die FDJ (Freie Deutsche Jugend) existierte in den ersten Nachkriegsjahren in beiden deutschen Staaten. Im Westen wurde sie 1951 verboten; in der DDR entwickelte sie sich zu einer mächtigen und omnipräsenten Massenorganisation. Sie war der einzige zugelassene Jugendverband der DDR und eng mit dem Schulsystem verwoben. Eine Mitgliedschaft war de facto obligatorisch für den beruflichen und sozialen Aufstieg; kurz vor der Wende trugen knapp 90% der Jugendlichen das blaue Hemd der FDJ. Ihre Publikation »Junge Welt« war die auflagenstärkste Tageszeitung in der DDR. Wer die Mitgliedschaft verweigerte, hatte einen schlechten Stand.

Bild 1 & 2: »LL-Demo« (Luxemburg-Liebknecht-Demonstration), 2010, Berlin
Bild 3: Erstellung des FDJ-Transparents für »LL-Demo«, 2009, Berlin
Bild 4: Plakate kleben anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls, 2009, Berlin
Bild 5: 19. Jahrestag der Wiedervereinigung, 2009, Berlin



The FDJ (Free German Youth) existed in both German states in the first post-war years. In the West it was banned in 1951; in the GDR it developed into a powerful and omnipresent mass organisation. It was the only authorised youth organisation in the GDR and was closely interwoven with the school system. Membership was de facto compulsory for professional and social advancement; shortly before the fall of the Wall, almost 90% of young people wore the blue shirt of the FDJ. Its publication "Junge Welt" was the highest-circulation daily newspaper in the GDR. Those who refused membership had a bad standing.

Image 1 & 2: "LL-Demo" (Luxemburg-Liebknecht-Demonstration), 2010, Berlin
Image 3: Cration of the FDJ banner for "LL-Demo", 2009, Berlin
Image 4: Sticking posters on behalf of the 20th anniversary of the fall of the Berlin Wall, 2009, Berlin
Image 5: 19th Anniversary of Reunification, 2009, Berlin

In den Wendejahren verließen so gut wie alle Mitglieder die FDJ und ihr Vermögen wurde von der Treuhand eingezogen. Nachdem die SED 1990 zur PDS geworden war, erkannte sie die FDJ nicht mehr als ihren Jugendverband an.

Bild 6: 19. Jahrestag der Wiedervereinigung, 2009, Berlin, Unter den Linden
Bild 7: Büchertisch der FDJ auf dem VVN-BDA-Kongress (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschist:innen), 2009, Berlin


In the early 90ies, almost all members left the FDJ and its assets were confiscated by the Treuhand. After the SED became the PDS in 1990, it no longer recognised the FDJ as its youth association.

Image 6: 19th anniversary of reunification, 2009, Berlin, Unter den Linden
Image 7: FDJ book table at the VVN-BDA Congress (Association of the Persecuted of the Nazi Regime, Association of Anti-Fascists), 2009, Berlin

Trotzdem ist die FDJ heute noch aktiv: es gibt mehr oder weniger organisierte Gruppen im Osten Deutschlands und auch in westdeutschen Städten wie Bremen, Frankfurt am Main und München. Über die Anzahl ihrer Mitglieder macht sie keine Angaben, Schätzungen schwanken zwischen deutschlandweit ein paar Dutzend und 200. Nach meiner persönlichen Einschätzung sind es um die 60, Tendenz fallend. Viele von ihnen sind um die 20 Jahre alt, haben die DDR also entweder gar nicht oder nicht bewusst erlebt – und aus dem Westen. Die FDJ lehnt die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten als »widerrechtliche Annexion des Staatsgebietes der DDR seitens der BRD« ab. Ihr gilt die DDR als das bessere Deutschland, ihr Wunsch ist ein sozialistischer Staat nach ihrem Vorbild.

Bilder 8–15: Mitglieder der FDJ auf dem Antifaschistischen Aktionscamp bei Weimar. Sie besuchen die Gedenkstätte des KZs Buchenwald, führen auf dem Aktionscamp das Theaterstück »Neues aus Mahagonny« von Bertold Brecht auf und singen Arbeiterlieder am Lagerfeuer.



Nevertheless, the FDJ is still active today: there are more or less organised groups in East Germany and also in West German cities like Bremen, Frankfurt am Main and Munich. The FDJ does not give any information about the number of its members, estimates vary between a few dozen and 200 throughout Germany. According to my estimation, there are around 60, and the trend is downwards. Many of them are around 20 years old, so they either didn't experience the GDR at all or not consciously - and from the West. The FDJ rejects the reunification of the two German states as an "illegal annexation of the territory of the GDR by the FRG". They see the GDR as the better Germany and want a socialist state based on its model.

Images 8–15: Members of the FDJ at the Anti-Fascist Action Camp near Weimar. They visit the Buchenwald concentration camp memorial, perform Bertold Brecht's play "News from Mahagonny" at the action camp and sing workers' songs around the campfire.

Bilder 16–21: Mitglieder der FDJ protestieren gegen den Abriss der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Ziegenhals. Bild 16: Vor dem brandenburgischen Landtag in Potsdam im Mai 2010, Bilder 17–21: an der Gedenkstätte in Königs-Wusterhausen im April 2010


Images 16–21: Members of the FDJ protesting against the demolition of the Ernst Thälmann memorial in Ziegenhals. Image 16: In front of the Brandenburg state parliament in Potsdam in May 2010, images 17–21: at the memorial in Königs-Wusterhausen in April 2010.

Jetzt, 2023, ist die FDJ nach wie vor aktiv. Der Anteil ihrer Mitglieder, die in der DDR gelebt haben und / oder sie angesichts ihres Alters noch bewusst miterlebt bzw mitbekommen zu haben, ist noch geringer als vor 13 Jahren.

Bilder 22–24: Mitglieder der FDJ 2009 & 2010, Bremen & Berlin



The FDJ is still active now, in 2023. The proportion of its members who lived in the GDR and / or consciously experienced or witnessed it in view of their age is even lower than 13 years ago

Images 22-24: Members of the FDJ 2009 & 2010, Bremen & Berlin

Bilder 26–30: Demonstrationszug der FDJ auf dem 20. Jahrestag der Wiedervereinigung in Bremen 2010


Images 26–30: FDJ demonstration on the 20th anniversary of reunification in Bremen 2010

Bilder 32–33: Die FDJ und ihr Publikum am Rande des 19. Jahrestag der Wiedervereinigung in Berlin, 2009


Images 32–33: The FDJ and its audience on the sidelines of the 19th anniversary of reunification in Berlin, 2009

Bilder 34–36: Büchertisch der FDJ auf dem Sozialistenfriedhof in Berlin-Lichterfelde. Die Mitglieder legen rote Nelken an Walter Ulbrichts Grab nieder. Berlin, 2010


Images 34–36: FDJ book table at the Socialist Cemetery in Berlin-Lichterfelde. Members lay red carnations at Walter Ulbricht's grave. Berlin, 2010

Die Arbeit »Trotz und Utopie. Die FDJ 20 Jahre nach dem Mauerfall« hing als als Einzelausstellung in der Berliner Galerie »Alles Mögliche«, in Köln in der Gruppenausstellung »Was bleibt« in der V8 Galerie für Zeitgenössische Fotografie und in der Michaela Helfrich Galerie in Berlin zu »Nacht und Nebel«. Sie war auf der Eingangsseite von ZEIT ONLINE publiziert und ist Bestandteil der ständigen Sammlung der »Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Zeitgeschichtliches Forum Leipzig«.


The work "Defiance and Utopia. Die FDJ 20 Jahre nach dem Mauerfall" hung as a solo exhibition at the Berlin gallery "Alles Mögliche", in Cologne in the group exhibition "Was bleibt" at the V8 Galerie für Zeitgenössische Fotografie and at the Michaela Helfrich Galerie in Berlin for "Nacht und Nebel". It was published on the front page of ZEIT ONLINE and is part of the permanent collection of the "Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - Zeitgeschichtliches Forum Leipzig".

Die Arbeit »Trotz und Utopie. Die FDJ 20 Jahre nach dem Mauerfall« hing als als Einzelausstellung in der Berliner Galerie »Alles Mögliche«, in Köln in der Gruppenausstellung »Was bleibt« in der V8 Galerie für Zeitgenössische Fotografie und in der Michaela Helfrich Galerie in Berlin zu »Nacht und Nebel«. Sie war auf der Eingangsseite von ZEIT ONLINE publiziert und ist Bestandteil der ständigen Sammlung der »Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Zeitgeschichtliches Forum Leipzig«.


The work "Defiance and Utopia. Die FDJ 20 Jahre nach dem Mauerfall" hung as a solo exhibition at the Berlin gallery "Alles Mögliche", in Cologne in the group exhibition "Was bleibt" at the V8 Galerie für Zeitgenössische Fotografie and at the Michaela Helfrich Galerie in Berlin for "Nacht und Nebel". It was published on the front page of ZEIT ONLINE and is part of the permanent collection of the "Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - Zeitgeschichtliches Forum Leipzig".

Ich bin in einem kleinen norddeutschen Dorf mit malerischen Höfen, Massentierhaltung und Bullerbü-Romantik aufgewachsen. 500 Einwohner:innen, Obstanbau, Infrastuktur bestehend aus der freiwilligen Feuerwehr, der Kneipe »Im Deutschen Haus« und unfassbar viel Alkohol. Der Anschluss an den ÖPNV bestand aus einem wochentags einmal verkehrenden Schulbus ins Nachbardorf (dort war die Grundschule). Ein Besuch des Gymnasiums in der Stadt war für die Dorfkinder infrastrukturell nicht vorgesehen.

Da es für mich dort nix weiter zu tun gab, habe ich begonnen zu fotografieren, ein bisschen Ende der Achtziger Jahre und dann noch mal Ende der Neunziger / Anfang der Nuller Jahre.



I grew up in a small northern German village with picturesque farms, factory farming and Bullerbü romance. 500 inhabitants, fruit growing, an infrastructure consisting of a voluntary fire brigade, the pub "Im Deutschen Haus" and plenty of alcohol. The connection to public transport consisted entirely of a school bus to the neighbouring village (where the primary school was) that ran once a day mondays - fridays. There was no infrastructure for the village children to reach the higher schools located the next bigger town.

Since there was nothing else for me to do there, I started taking photographs, a bit at the end of the eighties and then again at the end of the nineties / beginning of the noughties.

Ich bin in einem kleinen norddeutschen Dorf mit malerischen Höfen, Massentierhaltung und Bullerbü-Romantik aufgewachsen. 500 Einwohner:innen, Obstanbau, Infrastuktur bestehend aus der freiwilligen Feuerwehr, der Kneipe »Im Deutschen Haus« und unfassbar viel Alkohol. Der Anschluss an den ÖPNV bestand in Gänze aus einem wochentags einmal verkehrenden Schulbus ins Nachbardorf (dort war die Grundschule). Ein Besuch des Gymnasiums in der Stadt war für die Dorfkinder infrastrukturell nicht vorgesehen.

Da es für mich dort nix weiter zu tun gab, habe ich begonnen zu fotografieren, ein bisschen Ende der Achtziger Jahre und dann noch mal Ende der Neunziger / Anfang der Nuller Jahre.



I grew up in a small northern German village with picturesque farms, factory farming and Bullerbü romance. 500 inhabitants, fruit growing, an infrastructure consisting of a voluntary fire brigade, the pub "Im Deutschen Haus" and plenty of alcohol. The connection to public transport consisted entirely of a school bus to the neighbouring village (where the primary school was) that ran once a day mondays - fridays. There was no infrastructure for the village children to reach the higher schools located the next bigger town.

Since there was nothing else for me to do there, I started taking photographs, a bit at the end of the eighties and then again at the end of the nineties / beginning of the noughties.

Momentan – Sommer 2023 – verbringe ich viel Zeit auf dem staubigen Dachboden meiner Mutter und grabe nach den Filmen, die ich in dieser Zeit belichtet habe. Ich bin jedoch trotz des erstaunlich großen Fundus' der Ansicht, dass die Geschichte des Landlebens aus der Perspektive einer Jugendlichen in diesen Bildern noch nicht auserzählt ist. Von der irgendwie in Kauf genommenen Gefahr schwerer alkoholbedingter Verkehrsunfälle – so gut wie nie sagte jemand »Hier ist das Sofa« oder »Ich ruf' Dir ein Taxi« – beispielsweise habe ich damals keine Bilder fotografiert.



Right now – summer 2023 – I am spending quite a lot of time in my mother's dusty attic digging for the films I have exposed during this time. However, despite the astonishingly large pool of material, I think that the story of rural life from the perspective of a teenager has not yet been told to the end in these pictures. For example, I did not take any pictures of the somehow accepted danger of serious alcohol-related traffic accidents at that time.

Also hatte ich basierend auf dem Stil meiner analogen Kleinbildfotografien und meinen Erinnerungen diverse Konversationen mit auf künstlicher Intelligenz basierenden Bildgeneratoren. Das hier gezeigte Bild eines Autounfalls bildet also keinen real geschehenen Unfall ab. Es ist eine Zusammenarbeit von midjourney, photoshop beta, stable diffusion, Scans von meinen analogen Kleinbildnegativen und meinen Erinnerungen an die Art der Unfälle, die in meier Kindheit und Jugend auf dem Land zu den traurigen Nachrichten des Alltags gehörten.

Noch – Sommer 2023 – sieht man dem Ergebnis seine Kinderschuhe an: Es ist schwierig, midjourney den cineastischen Dramaqueenlook und stable diffusion die Roger-Ballen-Unfälle auszureden. Ich gehe jedoch davon aus, dass sich KI-generierte Bilder im Look alter Analog-Kleinbild-Fotos in ein paar Monaten nicht mehr vom Original unterscheiden lassen.



So based on the style of my analogue 35mm photographs and my memories, I had various conversations with artificial intelligence-based image generators. So the image of a car accident shown here does not represent an accident that actually happened. It is a collaboration of midjourney, photoshop beta, stable diffusion, scans from my analogue 35mm negatives and my memories of the kind of accidents that were part of the sad news of everyday life in my childhood and youth in the countryside.

Today – summer 2023 – you can see the mistakes on the result: It is difficult to talk midjourney out of the cinematic drama queen look and stable diffusion out of the Roger Ballen accidents. However, I assume that in a few months AI-generated images with the look of old analogue 35-mm- photos will no longer be distinguishable from the original.

Zudem habe ich damals neben den malerischen Seiten der Landwirtschaft nie im einer der konventionellen Legebatterien fotografiert, die es in meinem Dorf gab, von deren Existenz und auch der damit verbundenen Tierquälerei jede:r gewusst hat. Ich hätte gar keinen offiziellen Zutritt gehabt.

Selbst wenn ich die Erlaubnis seitens der Betreiber:innen bekäme, könnte ich in diesen Legebatterien heute keine Bilder mehr machen, denn sie sind seit 2010 (in Deutschland) und seit 2012 (EU) verboten, auch wenn die heute üblichen (und ab 2026 verbotenen) Kleingruppenkäfige nur unwesentlich besser sind.



Moreover, apart from the picturesque aspects of agriculture, I never photographed in one of the conventional battery cages that existed in my village, of whose existence and also the animal cruelty associated with it everyone knew. I would not have had official access.

Even if I were to get permission from the operators, I would no longer be able to take pictures in these battery cages today, because they have been banned since 2010 (in Germany) and since 2012 (EU), even though the small group cages that are common today (and will be banned from 2026) are only marginally better.

This leads us, at the latest when the quality of AI-generated images is a bit better than today and we can no longer distinguish a photographed image from a prompted one with our learned knowledge of images, to the question of how relevant images are at all beyond a purely promotional context.

Zur Zeit arbeite ich in Kooperation mit den KI-basierten Bildgeneratoren daran, auf Basis meiner Erinnerungen (ich war als Kind einmal verbotenerweise in einer dieser Legebatterien) und dem Look der hier gezeigten Fotos den vielen mir vorliegenden Bildern von der Apfelernte und Kühen auf der Weide ein Bild aus dem Inneren einer der bis 2010 üblichen Legebatterien an die Seite zu können.

Das wiederum führt uns spätestens dann, wenn die Qualität der KI-generierten Bilder ein bisschen besser ist als heute und wir nicht mehr mit unserem gelernten Wissen über Bilder ein fotografiertes von einem geprompteten Bild unterscheiden können, zu der Frage, wie relevant Bilder über einen rein werblichen Kontext hinaus überhaupt noch sind.



At the moment, I am working in cooperation with the AI-based image generators to be able to add a picture from inside one of the battery cages that were banned until 2010 to the many pictures I have of the apple harvest and cows on the pasture, based on my memories (I was once – strictly forbidden – in one of these battery cages as a child) and the look of the photos shown here.

This leads us, at the latest when the quality of AI-generated images is a bit better than today and we can no longer distinguish a photographed image from a prompted one with our learned knowledge of images, to the question of how relevant images are at all beyond a purely promotional context.

Wir müssen uns der Frage der Wahrhaftigkeit von Bildern stellen – das war auch vor den Möglichkeiten der KI-Bildgeneratoren so. Jetzt kommt jedoch die Frage nach der Zuverlässigkeit von Erinnerungen hinzu. Die Psychologin Elizabeth Loftus hat bewiesen, dass unsere Erinnerungen nicht faktenbasiert sein müssen und mit minimalstem Aufwand manipulierbar sind (»False Memory Effect«). Mein Bruder, der in denselben Umständen wie ich aufgewachsen ist, hat in Bezug auf unsere Kindheit auf dem Dorf Bilder im Kopf, die meinen in Teilen komplett widersprechen. Für ihn bedeutete das Dorfleben Freiheit, für mich war es das Gegenteil.

Wir werden also gemeinsam diese Dorfserie zuende prompten – mit gegensätzlichen Erzählsträngen, die ebenso wie Fotos keinem Anspruch auf Wahrheit gerecht werden können.



We have to face the question of the veracity of images - this was also the case before the possibilities of AI image generators. Now, however, there is the question of the reliability of memories. Psychologist Elizabeth Loftus has proven that our memories do not have to be fact-based and can be manipulated with minimal effort ("false memory effect"). My brother, who grew up in the same circumstances as I did, has images in his head about our childhood in the village that completely contradict some of mine. For him, village life meant freedom, for me it was the opposite.

So we will finish this village series together - with opposing narrative strands that, just like photos, cannot do justice to any claim to truth.