Für die Benennung komplexer Zusammenhänge werden der Einfachheit halber Synonyme verwendet. Es handelt sich um allgemein gelernte Begriffe, die sich zu festen Markennamen verselbstständigt haben und umgangssprachlich fest verankert sind.
Die Synonyme »Neukölln« und »Prenzlauer Berg« sind ursprünglich die Namen von Berliner Stadtteilen. Jedem Leser der FAZ ist klar, was der Autor eines Artikels mit dem Begriff »Neukölln« sagen möchte, auch Nicht-Berlinern. »Neukölln« steht im gesamten deutschen Sprachraum als pars pro toto für Integrationsverweigerer, Hartz IV, Hundescheiße und Hipster. Mit dem Begriff »Prenzlauer Berg« wird eine neureiche gemütliche grüne Spießigkeit bezeichnet, der Stadtteil gilt als Eldorado von (Möchtegern)-Besserverdienenden mit schwäbischem Migrationshintergrund und als AfD-Ideal: hier leben weniger Muslime als in Dresden und viele kinderreiche deutschstämmige Familien.
In den Jahren 2009 - 2014 war ich mit der Kamera in meiner alten Wahlheimat Neukölln und in Prenzlauer Berg unterwegs und habe viele Bilder dies- und jenseits der gängigen Stempel gefunden, viel stille und viel laute Urbanität und vieles, was Erinnerungen an meine Kindheit auf dem Dorf zwischen Kuhstall und Feuerwehrfest geweckt hat. Jetzt lebe ich in einem saturierten Hamburger Villengebiet und vermisse das vielfältige Neukölln.
Dr. Christine Hentschel, Stadt- und Regionalsoziologin, Philosophische Fakultät, Humboldt Universität zu Berlin über die Arbeit »Ordinary Cities«:
Wir scheinen sehr viel zu wissen über unsere Städte und ihre Viertel. »Prenzlauer Berg« ist mittlerweile ein etablierter Begriff für Gentrifizierung, sanierte Altbauwohnungen, CappuccinoBourgeoisie und Kinderland; weiß, gebildet, friedlich, langweilig. »Neukölln« wiederum steht für Problembezirk und Integrationsversagen, Hipsterland und Paradies für arme Künstler. Wir sind Experten der Entzifferung solcher Zuschreibungen geworden; was bleibt ist die Leere der Synonyme und die Armut unserer Bilder. Die Fotografien in Sabine von Bassewitz’ Serie »Ordinary Cities« entziehen sich dieser mächtigen Zuschreibungslogik. Gegen »Neukölln ist einanderes Wort für...« setzt Sabine die Multiplizität der Stories, der Erfahrungen, der Lebenswelten, der Ästhetiken. Statt mit allzu schneller Gewissheit spielt sie mit dem zeitweiligen Verlust unserer Orientierung. Die Deutschlandflagge, beispielsweise: Wüssten wir nicht längst, dass sie ein libanesischer Besitzer eines Elektrogeschäftes während der Fußball-WM 2010 in überdimensionaler Größe über mehrere Stockwerke über seinen Laden in der Sonnenallee gehängt hatte, müssten wir jetzt fragen: »Wo ist das?» Wir würden vermutlich neugierig auf die Geschichte sein und hören, wie linke Gruppen ihm die Fahneimmer wieder herunter gerissen haben und er sie insgesamt drei mal erneuerte, und dass er sich das alles sehr viel Geld hat kosten lassen. Und wie die Linken in den Laden gekommen sind und ihren Frust über die Fahne zum Ausdruck brachten und ihn, den gebürtigen Libanesen, fragten, wieso er denn nicht statt der verhassten deutschen die libanesische Flagge hissen würde und er ganz perplex antwortete: »aber die spielen doch gar nicht mit bei der WM?!«
Die Gleichsetzung von Neukölln mit missglückter Integration wird hier zu einem unterkomplexen Abklatsch jahrzehntelanger Zuschreibungen, die uns blind machen für die vielen anderen Geschehnisse, die diesen Zuschreibungen entgleiten.
Sabine bringt Wirbel in die Eigendynamiken der Bilder, die wir uns, und die sich Politik und Medien von unseren Städten machen. Sie weckt Assoziationen und lockt diese dann woanders hin, wo sie nicht mehr genau zu passen scheinen. Die Frage ist dann: von welchen Gewissheiten gehen wir eigentlich aus, wenn uns ein grüner Zweig, zwei schick angezogene alte Damen, ein Eigenheim, eine Yogagruppe oder eine Deutschlandfahne vor dem Fenster einer nicht-weißen Frau schmunzeln lassen? Sabines Provokation lautet in diesem Sinne: Synonyme sollen den Platz räumen für die Ästhetik des Alltäglichen, welches sich einer fixen Lokalisierung verweigert. Schmunzeln sollen wir trotzdem, aber nicht nur, wenn wir wiedererkennen was wir sowieso schon zu wissen geglaubt haben, sondern wenn wir überrascht werden oder von einem Detail berührt sind. In ihrem legendären Buch »Ordinary Cities« plädiert die Stadtgeografin Jenny Robinson für eine Neuerfindung der Stadtforschung jenseits der simplen Aufteilungen der urbanen Welt in westliche, »moderne« Städte auf der einenund chaotische Megastätte des globalen Südens auf der anderen Seite. Weniger Vorwissen brauchen wir, so Robinson, stattdessen die unvoreingenommene Neugier auf alle Städte und Stadtviertel als ordinary – und die Gewissheit, dass sie uns als ordinary etwas zu sagen haben. Sabine von Bassewitz erfindet »Ordinary Cities« für die Fotografie neu. Sie bringt uns die erfrischende Lebendigkeit des Alltäglichen in die visuelle Sprache der Gegenwart unserer Städte.
»Ordinary Cities« hing als Einzelausstellung als offizieller Bestandteil des Europäischen Monats der Fotografie in der Galerie im Saalbau und - ebenfalls als Einzelausstellung - in der Galerie »Alles Mögliche« (beide in Berlin) und ist Teil der ständigen Sammlung der Stiftung »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Zeitgeschichtliches Forum Leipzig«.
Die Arbeit wurde mit Hilfe des Arbeitsstipendiums der VG Bildkunst realisiert. Danke!
September - November 2014: »Ordinary City« als umfangreiche Einzelausstellung als offizieller Bestandteil des Europäischen Monats der Fotografie in der Galerie im Saalbau, Berlin
Mai - Juni 2014: »Ordinary Cities« in der »One World« im »Hotel Vier Jahreszeiten« (Kunsthotel) Zingst im Rahmen des Festivals für Fotografie »Horizonte Zingst« (Katalog)
April 2013: »Saints and Sinners«, Kunststück Galerie, Berlin
November 2012 - Februar 2013: »Ordinary Cities«, Galerie Alles Mögliche, Berlin (Einzelausstellung). Die Eröffnungsrede hielt Dr. Christine Hentschel, Stadt- und Regionalsoziologie, Philosophische Fakultät, HU Berlin (Fotos: Eric Pawlitzky)
Januar - Februar 2012: »8. Porträtfotoschau Deutschlands«, Bürgerfoyer des Sächsischen Landtages, Dresden, Februar bis Mai in Berlin (Katalog)